Review article
Historische Entwicklung der strafrechtlichen Lage des Täters mit psychischen Störungen in England
Zlata Đurđević
Abstract
In der vornomannischen Zeit wurde in England kein Unterschied zwischen den Straf- und Zivildelikten gemacht. Die weltlichen Gesetze behandelten Tötung und Körperverletzungen als Verletzungen, die Schadenersatz unter Androhung der Blutrache erforderten. Die Schadensverantwortung war objektiv und kollektiv. Das Problem der Gewalttaten, die seitens einer fremden Person mit psychischen Störungen begangen wurden, wurde gelöst, indem die Familie verpflichtet wurde, Schadenersatz zu leisten und weitere Sorge für die betreffende Person zu übernehmen. Obwohl im 11. Jahrhundert ein Strafrechtsystem begründet wurde, war der Charakter des Strafverfahrens weiterhin irrational, so dass gegen den Täter, dessen psychische Störungen allgemein bekannt waren, weiterhin außergerichtlich vorgegangen wurde. Erst als im 12. Jahrhundert das Verfahren des Gottesurteils vom Verfahren vor dem kleinen Schwurgericht abgelöst wurde, wurde der Täter mit seelischen Störungen der Gerichtsprozedur unterworfen. Das kleine Schwurgericht hatte festzustellen, ob der Angeklagte die Straftat begangen hatte und ob er zum Zeitpunkt der Tatbegehung geistesgestört war. Fiel die Ermittlung dieser Tatsachen positiv aus, wurden, dank der Kirche, die auf individueller Schuld (mens rea) bestand, die schweren Folgen des Prinzips der objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit und strenge Strafen durch königliche Begnadigung verhindert. Gegen Ende des Mittelalters erhielten die Schwurgerichte die Befugnis, nicht nur darüber zu entscheiden, ob der Täter geistesgestört war, sondern ihn unter Anwendung des Tests des „wilden Tieres“ von Bracton zu befreien. Aufgrund dieses Testes hatte das Gericht festzustellen, ob der Täter zur Gänze der unzurechnungsfähig war und daher nicht wusste, was er tat. Im 14. Jahrhundert wurden zwei Tests zur Verteidigung geistesgestörter Täter mit Hinsicht auf die Art der Geistesstörung entwickelt. Für psychisch unterentwickelte Personen wurde die Verteidigung durch den sog. Test zur Erfassung niedriger Intelligenz statuiert, während für geistesgestörte Täter der Test des „wilden Tieres“ durch den Test „des Guten und Bösen“ ersetzt wurde. Aufgrund dieses Tests wurde analog zum Verhalten gegenüber einem Kind zwischen sieben und vierzehn Jahren überprüft, ob eine Person Gut von Böse unterscheiden kann. Die Folge der Befreiung des Täters von der Anklage infolge von Geisteskrankheit war Freispruch bzw. Sonderurteil. In beiden Fällen wurde der Täter in Einklang mit dem Gewohnheitsrecht eingesperrt, „bis er die Vernunft wieder erlangt“, jedoch nur, wenn er andere gefährdete. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Test des Guten und des Bösen durch die sog. M’Naghten-Regeln ersetzt, mit deren Hilfe bewiesen werden musste, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat infolge der Geisteskrankheit derart geistesgestört war, dass er die Natur und den Charakter seiner Tat nicht erkannte oder nicht wusste, dass er ein Übel antut. Das englische Schwurgericht stellt noch heute aufgrund der M´Naghten-Regeln die strafrechtliche Verantwortung geistesgestörter Personen fest.
Die Täter mit psychischen Störungen, die verhandlungsunfähig waren, wurden wie taubstumme Täter behandelt bzw. wie Beschuldigte, die sich weigerten, auf die Anklage zu antworten. Im Falle des Schweigens des Angeklagten stellte das Gericht die Frage, ob er schweigt, weil „Gott ihn versucht“ oder aus „Arglist“. Im Falle einer Geisteskrankheit hatte das Schwurgericht die Untersuchung darüber durchzuführen, ob eine Geistesstörung vorliegt oder ob sie vom Angeklagten vorgetäuscht wird. Wurde festgestellt, dass der Angeklagte sich nur verstellt, wurde er der Folter (sog. peine forte et dure) unterworfen. Wurde jedoch festgestellt, dass der Angeklagte geistesgestört war, wurde das Verfahren hinausgeschoben, bis er „wieder die Vernunft erlangt“. Die rechtlichen Kriterien zur gerichtlichen Feststellung der Verhandlungsunfähigkeit wurden 1836 anlässlich des Rechtsfalls Pritchard aufgestellt. Doch waren Fälle der Aufschiebung des Verfahrens infolge von Verhandlungsunfähigkeit bis zur Gründung des medizinischen Dienstes und der Verabschiedung des Gefängnisgesetzes (Prison Act) 1865, durch das die Beweislast im Falle von Geistesstörungen im Verfahren von der Verteidigung auf die Anklage und das Gericht übertragen wurde, ziemlich selten.
Nach 1800 konnte die gerichtliche Feststellung des Schuldausschlusses infolge von Geistesstörungen und Verhandlungsunfähigkeit nicht mehr Freispruch, sondern ein Sonderurteil zur Folge haben. Anlässlich des Falles Hadfield wurde ein Gesetz (Criminal Lunatic Act) verabschiedet, das das Strafgericht verpflichtete, ein Sonderurteil auszusprechen, durch das solche Täter gleichzeitig „für unschuldig infolge von Geisteskrankheit“ (not guilty by reason of insanity) erklärt und eingesperrt wurden. Nach der Intervention Königin Viktorias 1883 lautete das Sonderurteil bis 1964 „schuldig, jedoch geisteskrank“ (guilty, but insane), doch schickten die Strafrichter geistesgestörte Täter weiterhin ins Gefängnis, „bis der Wille seiner Majestät sich kundtut“.
Keywords
englisches Strafrecht; englisches Strafverfahren; Psychiatrierecht; psychische Störungen; Täter mit psychischen Störungen; geschichtliche Entwicklung; Schuld; Unzurechnungsfähigkeit; Verhandlungsunfähigkeit
Hrčak ID:
5112
URI
Publication date:
20.4.2006.
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